Denkmale

Dreidimensionale Rekonstruktion römischer Gebäude

Die Villa Rustica von Oberndorf-Bochingen

Geringe Kenntnis über die aufgehende Struktur römischer Gebäude

Wie hoch waren eigentlich römische Gebäude? Schwer zu sagen, aber wohl meist höher als bisher angenommen. - So in etwa könnte die Antwort lauten, wenn man die Ergebnisse berücksichtigt, die in verschiedenen Grabungsprojekten der archäologischen Denkmalpflege in den letzten Jahren gewonnen wurden. In der Region nördlich der Alpen sind meist nur noch die Fundamente antiker Bauten im Boden erhalten. Das Aufgehende, d.h. die gesamte Erscheinung, muss rekonstruiert werden. Schriftliche Überlieferungen oder bildliche Darstellungen, die weiterhelfen könnten, existieren kaum, und wenn, beziehen sie sich auf die Verhältnisse im Mittelmeerraum. Für den Hausbau in den Provinzen, in denen sich einheimische Traditionen mit römischen Einflüssen mischten, gewinnen wir durch diese Nachrichten wenig. Umso wertvoller sind die Aufschlüsse, die unter bestimmten Voraussetzungen die archäologischen Grabungen selbst geben.

 

Einmalige Überlieferungsbedingungen in Oberndorf-Bochingen

Als seltener Glücksfall für die Wissenschaft entpuppte sich eine Untersuchung nahe Oberndorf am Neckar (Kreis Rottweil). Notgrabungen anlässlich der Ausweisung eines neuen Gewerbegebietes führten 1993 bis 2005 zur Freilegung eines ausgedehnten römischen landwirtschaftlichen Betriebes, einer so genannten Villa rustica aus der Zeit von ca. 100-250 n. Chr. In dem ummauerten Hofareal von 3,2 ha Größe lagen mehrere Gebäude. Zusätzlich zum Wohngebäude und dem Bad gab es auch einige Nebengebäude aus Stein. Die Besonderheit des Fundplatzes ist, dass die meisten Wände der Nebengebäude im Mauerverband umgestürzt sind. Durch die anschließende Überdeckung mit Abschwemmungen von einem nahen Hang blieb diese Situation erhalten und konnte vom ehemaligen Landesdenkmalamt bei der Grabung freigelegt und dokumentiert werden. Neben Türen und Fenstern sind auch die Dachansätze erhalten geblieben. Diese sensationellen, europaweit fast einmaligen Überlieferungsbedingungen machen die Villa von Oberndorf zum Paradefall für die Rekonstruktion der dritten Dimension römischer Gebäude in den Nordwestprovinzen, die mangels anderweitiger Quellen ansonsten weitgehend der freien Phantasie überlassen ist.

 

Wände kippten zur Seite hin um

Bei dem ersten Nebengebäude (Gebäude 3) ist zunächst das mit Ziegeln gedeckte Dach eingestürzt. Anschließend klappten die Seitenwände um 90° nach außen um, und zwar so akkurat, dass man ihre ehemalige Höhe von 7,2 m unmittelbar messen konnte. Die Giebelseite erreichte eine Höhe von 12 m, als Dachschräge hatten die antiken Zimmerleute 33° gewählt. Die Ganze ruhte auf 0,90 m breiten und tiefen Fundamenten. Die Außenmaße der Halle betrugen 18 m auf 15 m. Das zweite Nebengebäude (Gebäude 4) war mit 10 m auf 15 m etwas kleiner. Bei ihm sind eine Quer- und eine Längswand umgestürzt. Besonders imposant ist der Anblick der liegenden Längswand mit dem großen Eingangstor, das von zwei Rundbogenfenstern flankiert wird. Dieses Bild ist um die (archäologische) Welt gegangen. Das Tor selbst ist 5,5 m hoch und mehr als 3 m breit, die Fenster 2 m hoch und circa 0,80 m breit. Die Gesamthöhe beträgt 7,5 m. Die Mauern waren 0,55 m dick und ruhten auf einem maximal 0,60 m tiefen Fundament. Bei den Gebäuden handelte es sich vermutlich um einen Speicher und eventuell um einen Stall.

 

Unerwartete Größe und Ausstattung

Diese Dimensionen hätte man für solch einfache Zweckbauten in einer Villa rustica vor den Ausgrabungen von Oberndorf-Bochingen nicht erwartet. Auch die vielen architektonischen Detaillösungen, z.B. die Sandsteinplättchen um die Bögen und am Übergang zum Dach oder profilierte Auflagensteine für die Dachbalken, zeugen von dem liebevollen Aufwand, den die römischen Erbauer ihren Nebengebäuden zukommen ließen .

 

Interdisziplinäre Forschung

Die Freilegung und Dokumentation der archäologischen Befunde ist Aufgabe der Denkmalpflege. Sie bedarf großer Sorgfalt und enger langjähriger Zusammenarbeit zwischen Grabungstechnikern, Archäologen, Bauforschern und Restauratoren. Noch ungelöst ist die Frage: Warum sind die Wände in Oberndorf-Bochingen auf die beschriebene Weise umgefallen? Hat es ein Erdbeben gegeben, wie man angesichts der nahen geologischen Verwerfungen (z.B. Zollern-Alb-Graben) vermuten könnte? Hierzu wäre die Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Erdbebenforschung gefragt. 

 

Unterstützung bei wissenschaftlicher Auswertung gesucht

Die Auswertung der Funde konnte bislang nicht abgeschlossen werden. Die Archäologische Denkmalpflege befindet sich derzeit auf der Suche nach einem kompetenten Partner, der die Grabungsergebnisse z.B. im Rahmen einer wissenschaftlichen Dissertation auswertet. Erst anschließend wird eine am realen Befund orientierte Rekonstruktion – sei es in digitaler Form oder im Modell – möglich sein. Bei der Rekonstruktion eines Torhauses und eines Nebengebäudes der Villa rustica im Europäischen Kulturpark Reinheim-Bliesbruck im Jahr 2007 hat man sich bereits an den Ausgrabungsbefunden von Oberndorf-Bochingen orientiert.

Literatur

  • D. Kapff, Die Villa rustica von Bochingen – Ein Fall für die Wissenschaft. Schwäbische Heimat 1996/3, 228-237.
  • C.S. Sommer, Römische Häuser: 12 Meter bis zum First. In: Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau (Stuttgart 2005) 282-285.
  • C.S. Sommer, Oberndorf-Bochingen a.N. (RW). In: D. Planck (Hrsg.), Die Römer in Baden-Württemberg. Römerstätten und Museen von Aalen bis Zwiefalten (Stuttgart 2005) 231 - 235.
  • C.S. Sommer, Vetustate conlapsum, enemy attack or earthquake? The end of the Roman villa rustica of Oberndorf-Bochingen, Baden-Württemberg. In: G. H. Waldherr /A. Smolka (Hrsg.), Antike Erdbeben im alpinen und zirkumalpinen Raum. Befunde und Probleme in archäologischer, historischer und seismologischer Sicht. Geographica Historica Bd. 24. (Stuttgart 2007) 69 – 81.